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Seit geraumer Zeit gehört das Weihnachtsereignis nicht mehr allein den Kirchen, nicht einmal mehr denen, die um die Jahreswende – in der astronomisch und meteorologisch dunkelsten Zeit – ein vages religiöses Gefühl überkommt. Weihnachten ist zum kulturellen Allgemeingut geworden, auf das weltweit und weltanschaulich übergreifend die unterschiedlichsten Interessen Anspruch erheben. 

Die Faszination von Weihnachten, die offenbar Tiefenschichten des Menschseins berührt,
hat vermutlich damit zu tun, dass sich dabei alles um ein neugeborenes Kind dreht, - schutzbedürftig, verletzlich und verwundbar. In einem neugeborenen Kind wird sichtbar und erfahrbar, was ein Wesenszug aller Menschen ist, vielleicht sogar der am meisten bestimmende: angewiesen zu sein, - angewiesen zu sein auf die andere, den anderen. Denn niemand lebt aus sich selbst heraus.

Keine andere der großen Weltreligionen leistet sich einen so steilen, gedanklich kaum einzuholenden Grundgedanken des Glaubens: Gott wird Mensch, geboren von einer Frau aus kleinen Verhältnissen, fern der Heimat, vor den Toren einer Stadt, die für die schwangere Frau und ihren Verlobten keine Unterkunft hat. Die Familie Jesu ist das Urbild aller unzähligen Migranten aller Zeiten, die unerwünscht sind. Gott offenbart sich als schutzbedürftiger Säugling, als „Jesusbaby“, - durchaus nicht als unverwundbarer, lichtumglänzter und beeindruckender Held. Gott kommt als Baby, wie alle Babys ohne Waffen, den großen Risiken des Lebens ausgesetzt. Nicht aus eigener Kraft kann er sich gegen Aggressionen verteidigen, - er und seine Eltern sind kaum abgesichert und geschützt. Als Neugeborener ist das Jesusbaby darauf angewiesen, dass es versorgt und beschützt wird vor den Bedrohungen einer gleichgültigen Natur und dem gierigen und gefährlichen Zugriff von Menschen und Tieren. Die Weihnachtsgeschichten des Matthäus- und des Lukasevangeliums deklinieren die vielfältigen Bedrohungen des Kindes und seiner Familie in bildreichen Geschichten sehr unromantisch durch. Immer nur um ein Haar entgeht das Kind dem sicheren Tod. Dabei sind es keine spektakulären Rettungswunder wie in vielen späteren Legenden von Heiligen, sondern allein das pragmatische – wenn auch von Gott gelenkte – Handeln seiner Eltern, die das Leben des Kindes durch alle Gefährdungen hindurch bewahren.
„So spiegelt sich bei den Menschen der Weihnachtsgeschichte, was Gott in der Inkarnation tut. Sie werden Mensch, indem sie Hingabe wagen“, bringt Hildegund Keul es auf den Punkt.

Mit der Menschwerdung seines Sohnes geht Gott den ungemütlichen Weg hinab in die Niederungen des Alltages, der für zahllose Menschen zu allen Zeiten ein Weg in die Höllen dieser Erde ist. Gott geht dorthin, wo Menschen in ihrer leiblichen und seelischen Existenz wehrlos der Verwundbarkeit ausgeliefert sind.

Dabei kommt einem ganz unausweichlich das zur Zeit die innerkirchliche Stimmung schwer belastende Thema in den Sinn, - der seit mehr als einem Jahrzehnt schwelende Missbrauchsskandal, der nach wie vor auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wird. Zahllose Katholiken haben darum in Wut, Enttäuschung und Verzweiflung ihre Kirche verlassen, während manche Bischöfe noch nicht einmal richtig realisiert zu haben scheinen, welches himmelschreiende Unrecht an missbrauchten Kindern und Jugendlichen geschehen ist – und weiter geschieht! –, und das in einer Kirche, die an Weihnachten ein schutzloses und bedrohtes Kind in den Focus ihrer Verkündigung stellt! Seit wir Einblick bekommen haben in diese unfasslichen kriminellen Handlungen von Priestern, Bischöfen und kirchlichen Mitarbeitern können wir nicht mehr im Rücken zu den Opfern Weihnachten feiern, wenn wir uns nicht zu Komplizen der Täter und Vertuscher machen wollen.

Doch in der Geburt des Gotteskindes tritt uns eine Liebe entgegen, die das Verletztwerden in Kauf nimmt. Das ist der rote Faden, der durch das Leben Jesu läuft – von der Krippe bis zum Kreuz. Erst wo eine solche Liebe gelernt ist und gelebt wird – wenn auch vielleicht nur tastend und unvollkommen –, geschieht jedes Mal wieder neu ein Stück Heilung der Welt.

Dann ist auch immer neu Weihnachten – und nicht nur am 25. Dezember.

 

Ihnen, Ihren Familien und allen, die Ihren Herzen nahe sind, ein gnadenreiches Weihnachtsfest und Gottes Güte und Frieden für das neue Jahr!

Ihr Pastor Georg Späh
(ehemals geistlicher Beirat des Familienbundes im Bistum Essen)