Aus dem Pfarrbrief der Gemeinde St. Mariä Himmelfahrt, Gelsenkirchen, veröffentlichten wir folgenden Kommentar von Pastor Georg Späh:
Im Zusammenhang mit dem Referendum in Irland über die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare vom 26. Mai dieses Jahres erinnert der FAZ-Redakteur Daniel Deckers an das an sich hinlänglich bekannte Faktum, wie groß die Kluft ist zwischen den lehramtlichen Verlautbarungen der Kirche zu Sexualität und Ehe und der Praxis der Katholiken selbst. Die Gläubigen fühlten sich längst mehr ihrem Gewissen als den Weisungen der Kirche verantwortlich. Das schließt nach der klassischen Lehre vom „informierten Gewissen“ eine Auseinandersetzung mit den Weisungen des Lehramtes nicht aus, sondern ein. Und Deckers gibt zu bedenken: Wenn sie (der Papst und die Bischöfe) nicht einmal mehr das gläubige Volk hinter sich wissen können, warum sollen ihre Argumente in Politik und Gesellschaft noch verfangen?[1]
Deckers legt damit den Finger in die Wunde. Zurecht. Sexualität, Ehe und Familie sind keine Randthemen. Sie gehen jeden Katholiken unmittelbar an. Darum ist es katastrophal, wenn offizielle Lehre und Lebenspraxis so weit auseinander klaffen. Und das seit einem halben Jahrhundert. Darüber darf eigentlich niemand großzügig oder beruhigt hinwegsehen.
Deckers Kommentar hätte man auch bereits in den 1970er Jahren schreiben können, als die Empörung zahlloser Katholiken über die so genannte „Pillenenzyklika“ Paul VI., die eigentlich Humanae Vitae heißt, hochschlug. Es ist verstörend, wie wenig in einem langen halben Jahrhundert auf diesem Gebiet von Seiten der römischen Zentrale geschehen ist. Genau genommen ist nichts geschehen.
Nun hat Papst Franziskus im Oktober vergangenen Jahres die Dritte Außerordentliche Vollversammlung der Bischofssynode zum Thema „Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung“ einberufen. Doch die Fronten unter den Bischöfen sind schon jetzt verhärtet. Viele Stimmen, darunter auch Bischof Overbeck, haben die Erwartungen an die Bischofssynode gedämpft. Es seien keine Wunder zu erwarten, sagte Overbeck im Mai auf einer Tagung in der Wolfsburg.
Es scheint zu den grundlegenden Problemen zwischen den Bischöfen der Weltkirche und dem so genannten Kirchenvolk zu gehören, dass die einen ein Ideal, eine Idee von Ehe und Familie vor Augen haben, von deren Grenzen die, die dies leben müssen, aus schmerzlicher Erfahrung wissen. Darum sagt Papst Franziskus mit recht: Die Realität ist wichtiger als die Idee.
Der Mainzer Moraltheologe und Eheberater Jochen Sautermeister weist darauf hin: Selbst Ehepartner bleiben im Laufe ihres Lebens vieles einander schuldig und der Auftrag gegenseitiger Heiligung und Ganzhingabe bleibt fragmentarisch eingelöst… Insofern die Verletzlichkeit menschlicher Beziehungsgestaltung für alle Lebensformen gilt, vereint sie alle Menschen in ihrer gefährdeten Sehnsucht nach Beziehungen, die von Liebe, Vertrauen, Verbindlichkeit und Verantwortung getragen sind.[2]
Doch wenn es eine christliche Hoffnung gibt, dass Scheitern und Schuld nicht das letzte Wort haben, selbst wenn das moralische Ideal von Ehe und Familie nicht oder nicht mehr eingelöst werden kann, dann muss auch gelten, dass jede Lebensgeschichte – so vielfach gebrochen sie auch sein mag – für die Spuren der Gegenwart Gottes offen ist.
Überall da, wo Menschen Werte wie Treue und Verlässlichkeit, Fürsorglichkeit und Zärtlichkeit, Achtung von Freiheit und partnerschaftlicher Gleichheit, Verantwortung, Verbindlichkeit und elterliche Sorge leben, verwirklichen sie zumindest annäherungsweise etwas von der sich im sakramentalen Zeichen der Ehe mitteilenden Liebe des Dreifaltigen Gottes.
Somit sind alle zwischenmenschlichen Gemeinschaften, die von diesen Werten tatsächlich geprägt sind, Orte, die etwas sichtbar und erfahrbar machen von der Liebe Gottes.
Hier läge ein Ansatz, auch nichteheliche partnerschaftliche und familiäre Gemeinschaften von der lehramtlichen Diskriminierung zu befreien, mit der sie derzeit noch behaftet sind.
Georg Späh